Siemens stellt ETCS Level 2 ohne Signale vor

ETCS Level 2 ist das neue europäische Zugsicherungssystem für moderne Schnellfahrtrassen – und Nachfolger der in Deutschland bislang verwendeten Linienzugbeeinflussung (LZB). Im Rahmen einer Infoveranstaltung stellte die Siemens AG das neue System, das komplett ohne Streckensignale verwendet werden kann, kürzlich der Presse vor.


Vom deutschen Vorgängersystem LZB zum neuen europäischen Zugsicherungssystem ETCS Level 2

Dass Triebfahrzeugführer Züge auch „anzeigegeführt“ und damit auf elektronische Sicht – also ohne Blick auf Haupt- und Vorsignale – sicher steuern können, ist bereits seit rund 40 Jahren ausgiebig bewiesen. Denn mit der Einführung der Linienzugbeeinflussung (LZB), Mitte der 1970er Jahre, wurde auch der Hochgeschwindigkeitsbetrieb des damals aufkommenden Intercity-Verkehrs möglich. Anders als bei signalgeführten Zugfahrten, die im Regelbetrieb ausschließlich durch die Fahrstellung ortsfester Signale am Streckenrand zugelassen werden, erhalten anzeigegeführte Züge ihre Fahr- und Haltaufträge sowie Geschwindigkeitsvorgaben direkt über Anzeigen im Führerraum.

Da Züge einen sehr langen Bremsweg haben, der aus einer Geschwindigkeit von 160 km/h bis zu 1.000 Meter betragen kann, müssen Triebfahrzeugführer rechtzeitig über die Signalstellung des bevorstehenden Hauptsignals informiert werden, um eine erforderliche Handlung, wie eine Geschwindigkeitsermäßigung oder eine Bremsung bis zum Stillstand, sicher zu gewährleisten. Diese warnende Funktion übernimmt bei Strecken für signalgeführte Züge das Vorsignal, welches im ausreichenden Bremswegabstand vor dem dazugehörigen Hauptsignal aufgestellt ist. Bei Hochgeschwindigkeitszügen mit Geschwindigkeiten von bis zu 300 km/h reicht der konventionelle Signalabstand von in der Regel 1.000 bis 1.300 Meter jedoch nicht mehr aus. Die Folge: Eine Reaktion des Triebfahrzeugführers würde zu spät erfolgen und der Zug würde trotz Bremsung das Halt zeigende Signal überfahren, was zu einer erheblichen Betriebs- und Unfallgefahr führen würde.

Der 40 Jahre alte Vorgänger des neuen ETCS Level 2 (LZB-Werbefilm aus den 1970er Jahren)

Aus diesem Grund verlangt der Gesetzgeber ein Zugbeeinflussungssystem, welches gemäß § 15 Abs. 3 der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) in der Lage ist, Züge zu führen und selbsttätig zum Halten zu bringen. Um dies zu gewährleisten, kommt ein System zum Einsatz, das einen kontinuierlichen Datenaustausch zwischen der Strecke und dem Zug gewährleistet. Während bei der älteren LZB-Technik die Datenkommunikation über ein Linienleiterkabel im Gleis realisiert wird, geht man bei den Ausbaustufen Level 2 und 3 des European Train Control System (ETCS) ganz neue Wege. Hier erfolgt die Datenübertragung funkbasiert über das bahneigene digitale Mobilfunknetz GSM-R (Global System for Mobile Communication Railway). Fährt ein Zug unter Nutzung einer kontinuierlich wirkenden Zugbeeinflussung – beispielsweise der LZB oder dem neuen ETCS Level 2, so erhält der Triebfahrzeugführer statt einer Vorsignalisierung an der Strecke alle notwendigen Informationen über eine virtuelle Signalisierung auf einem Führerraumdisplay.

VDE 8.2 – Erste deutsche Strecke mit ETCS Level 2 ohne Signale

ETCS ist in anderen europäischen Staaten teilweise bereits seit mehreren Jahren im Einsatz. Nun kommt die neue Technik, die unterschiedliche Level (Ausbau- bzw. Anwendungsstufen) und Modi verwendet, erstmals auch auf einer deutschen Strecke zur Anwendung. Die erste deutsche Hochgeschwindigkeitsstrecke, auf der ETCS Level 2 ohne Signale verwendet wird, ist die am 9. Dezember 2015 in Betrieb genommene 123 Kilometer lange Neubaustrecke VDE 8.2 des Schienenverkehrsprojekts Deutsche Einheit Nr. 8, zwischen Erfurt und Leipzig/Halle. Sie ist für eine Geschwindigkeit von bis zu 300 km/h zugelassen. Für die technische Ausrüstung sorgten die Siemens AG und ihr Konsortialpartner Kapsch CarrierCom Deutschland. Während Siemens für die erforderliche ETCS-Ausrüstung und Technik der Elektronischen Stellwerke (ESTW) zuständig war, rüstete Kapsch die Strecke mit der notwendigen GSM-R-Funktechnik aus.

Aufbau des Systems ETCS Level 2 (Grafik: Siemens AG)
Neubaustrecke VDE 8.2 Erfurt – Leipzig/Halle (Foto: Siemens AG)
Fahrdienstleiter in der Betriebszentrale (BZ) Leipzig steuern den Zugverkehr auf der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke Erfurt – Leipzig/Halle (Foto: DB AG)

Elektronisches Stellwerk (ESTW) und Radio Block Center (RBC)

Gesteuert wird der Zugverkehr unter ETCS Level 2 über die zuständige Betriebszentrale (BZ) in Leipzig, in der ein eigener neuer Streckenbezirk eingerichtet wurde. Die Aufgabe der hier zum Einsatz kommenden ESTW´s ist es, einen gesicherten Fahrweg durch das Stellen der Weichen und virtuellen Signale herzustellen. Die Information über das Besetzt- oder Freisein des Gleises erfolgt durch eine Gleisfreimeldeanlage unter Verwendung von Achszählern. Der Fahrzeugrechner, der European Vital Computer (EVC), ermittelt die Fahrtrichtung und genaue Position des Zuges auf der Strecke. Dies geschieht mit Wegimpulsgebern am Rad sowie einer örtlichen Standortinformation mithilfe von Eurobalisen im Gleis. Die Standortinformation eines Zuges wird dann durch das Fahrzeug selbst an das RBC (Radio Block Center), die Funkstreckenzentrale, gesendet und somit auch an das ESTW übertragen.

Wird eine Fahrstraße durch die automatische Zuglenkung oder manuell durch den örtlich zuständigen Fahrdienstleiter (özF) eingestellt, erteilt das RBC die Fahrterlaubnis, die sogenannte Movement Authority (MA), inklusive eines Geschwindigkeitsprofils per Funk an den Zug. Das Ende der Fahrterlaubnis, die End Of Authority (EOA), liegt am Ende der eingestellten Fahrstraße. Die Stelle an der ein ETCS-geführter Zug zum Halten kommen muss, wird als ETCS-Halt bezeichnet. Anstelle der auf konventionellen Strecken verwendeten Hauptsignale, sind hier ETCS-Halt-Tafeln aufgestellt. Diese Tafeln, die im Bahndeutsch Ne 14 genannt werden, kennzeichnen den Standort eines ETCS-Haltes im Modus SR (Staff Responsible). Virtuelle Blockstellen innerhalb einer Blockstrecke werden durch zusätzliche Blockkennzeichen begrenzt, wie sie bereits auf LZB-Strecken verwendet werden.

Erklärfilm zu Aufbau und Funktion von ETCS Level 2 ohne Signale

Führerraumanzeige ersetzt Streckensignalisierung

Der Triebfahrzeugführer erhält die Information über eine erteilte Fahrterlaubnis anhand einer grafischen Darstellung im Modularen Führerraumdisplay (MFD), welches auch als Driver Maschine Interface (DMI) genutzt wird. Diese ermöglicht ihm eine elektronische Streckenvorausschau auf etwa 8 bis 10 km – maximal jedoch auf bis zu 32 km.

Führerraum eines ICE-T; Triebfahrzeugführer erhält über das Modulare Führerraum Display (MFD) eine elektronische Streckenvorausschau über mehrere Kilometer (Foto: DB AG)
Führerraumsignalisierung im MFD (Grafik: ERA ERTMS)
Geschwindigkeitsprofil im MFD (Grafik: ERA ERTMS)

Rückfallebene im Falle einer Störung

Da die Strecke Erfurt – Leipzig/Halle über keine klassische Streckensignalisierung mehr verfügt, kann bei einem Ausfall des ETCS nicht auf eine signalgebundene Weiterfahrt zurückgegriffen werden. Kommt es zu einem Übertragungs- oder Rechnerausfall, so löst das System automatisch eine Zwangsbremsung des Zuges aus. Zur Weiterfahrt, die dann auf Sicht mit maximal 40 km/h erfolgt, ist in diesem Fall ein Befehl des zuständigen Fahrdienstleiters erforderlich.

ETCS Level 2 soll LZB bis 2030 ablösen

Zweck der Einführung von ETCS ist es, die bislang rund 20 nationalen Zugsicherungssysteme in der EU langfristig durch das neue europäische System abzulösen. Die in die Jahre gekommene LZB, die mit Stand heute ca. 2.750 Kilometer (etwa 8 %) des deutschen Streckennetzes der DB Netz AG ausmacht, wird auf Neubaustrecken zukünftig nicht mehr eingerichtet und steht zudem in absehbarer Zeit vor ihrer Ablösung. Schnellfahrtrassen auf denen aktuell eine LZB verwendet wird, sind unter anderem die Strecken Hamburg–Hannover, Berlin–Hamburg, Berlin–Leipzig, Mannheim–Stuttgart, München–Augsburg, Ingolstadt–Nürnberg, Hannover–Würzburg, Karlsruhe–Basel und einige mehr. Einen Sonderfall bildet hier die Stammstrecke der S-Bahn München. Denn auch hier kommt die LZB zum Einsatz, jedoch nicht um Geschwindigkeiten höher 160 km/h zu ermöglichen, sondern rein zur Verringerung der Blockabstände und der damit verbundenen Erhöhung der Zugfolge. Wie eine Bahn-Sprecherin vor einiger Zeit gegenüber Bahnblogstelle.de verriet, plane man auch hier ab 2026 ETCS in der Ausbaustufe Level 2 einzusetzen.

Innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre soll das alte LZB-System durch das neue europäische Zugsicherungssystem ETCS ersetzt werden. Für 75% der heutigen LZB-Strecken ist daher eine Doppelausrüstung mit ETCS Level 2 geplant. Eine fahrzeugseitige LZB-Nutzung soll jedoch auf fast allen LZB-Strecken bis mindestens 2026 möglich sein.

DB Infozentrum in Kalzendorf
Innenraum des DB Infozentrums in Kalzendorf; hier fand am 16. Dezember 2015 die Presseveranstaltung der Siemens AG statt
ICE auf der Neubaustrecke

Siemens Presseveranstaltung

Die Presseveranstaltung zur Vorstellung des neuen Zugsicherungssystems ETCS in der Ausbaustufe Level 2 ohne Signale fand am 16. Dezember im Infozentrum der Deutschen Bahn in Kalzendorf statt. Mitarbeiter von Siemens und der DB Netz AG stellten dort das neue System den Pressevertretern vor und verrieten die Vorteile gegenüber bisher verwendeten Signalsystemen. So können mit ETCS Level 2 beispielsweise Infrastrukturkosten erheblich reduziert werden, da auf eine konventionelle Signalausrüstung komplett verzichtet werden kann. Das neue System erhöht zudem die Streckenkapazität, ermöglicht eine Erhöhung der zulässigen Fahrgeschwindigkeiten und verkürzt damit die Reisezeit der Fahrgäste.


Sie möchten mehr Fotos sehen? ? Zur Fotostrecke

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .